Wir lieben das Klagen!
Ein polemischer Aufruf | von Olav Sehlbach | veröffentlicht in care konkret 24.03.2023
Der renommierte Soziologe Reimer Gronemeyer hat bei einem Vortrag auf dem DVLAB-Kongress im Dezember 2022 sinngemäß gesagt: Die professionelle Altenpflege ist so zukunftsfähig wie die Braunkohle in der Lausitz.
Selten hat mich eine Aussage so bewegt, und viele Kolleg:innen reagieren ähnlich, wenn ich Gronemeyer zitiere. Meines Erachtens hat er Recht, die Langzeitpflege ist in ihrer jetzigen Form in keiner Weise zukunftsfähig:
Wir arbeiten in einem System, das allein aufgrund der demografischen Entwicklungen nicht in den heutigen Strukturen fortführbar ist.
Wir fordern mehr Geld, mehr Personal, mehr Zeit, wohl erkennend, dass es dies nicht in ausreichender Menge gibt bzw. geben wird.
Wir entwickeln Personalbemessungssysteme, von denen wir wissen, dass weder die Anzahl der notwendigen Arbeitskräfte noch die Qualifikationen hierfür zur Verfügung stehen.
Wir hoffen auf die Unterstützung durch die Digitalisierung, wo weder ausreichende Refinanzierungen noch entsprechende Kompetenzen bei den Akteuren ersichtlich sind.
Wir differenzieren ambulant und stationär, obwohl eine flexiblere Versorgung angezeigt ist.
Wir befolgen Quoten und Schlüssel, weil dies für die Aufsichtsbehörden und für uns selbst einfacher zu kontrollieren ist als Ergebnisqualität.
Wir investieren mehr in Pflege als in Prävention, obwohl es umgekehrt sinnvoller wäre.
Wir akzeptieren die größtenteils illegale Beschäftigung von ca. einer halben Million 24-Stunden-Kräfte, weil ansonsten unsere Sorgestrukturen kollabieren würden.
Wir bezahlen enorme Aufschläge für Leiharbeitskräfte und beobachten, wie diese den Zusammenhalt in den Teams untergraben.
Wir suchen und werben internationale Arbeitskräfte an, die größtenteils in ihrer Heimat gebraucht werden und die in anderen Ländern mehr finanzielle und gesellschaftliche Wertschätzung erhalten.
Wir verschwenden Akquisitionsaufwendungen, um Mitbewerbern Kolleg:innen abzuwerben, wo diese dann die Löcher reißen, die bei uns gestopft werden.
Wir suchen Innovation in sonderfinanzierten Modellprojekten und nicht in alltagstauglichen Geschäftsmodellen.
Wir warten auf politische Anerkennung, wohl wissend, dass Pflege im demokratischen Wettstreit keine Gewinnerthema ist.
Wir fordern Reformen über die wir uns als Branche nicht einigen können.
Wir sind müde und wünschen uns den Alltag zurück, den es vermeintlich einmal gegeben hat.
Und: Wir lieben das Klagen!
Und jetzt? Weitermachen wie bisher? Hoffen? Verzweifeln? Aufhören?
Fast flächendeckend ist Resignation zu beobachten. Die meisten von uns versuchen, die Versorgung so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Wir sind ernüchtert ob der Vielzahl vermeintlich unlösbaren Probleme. Wir bestätigen uns gegenseitig, wie schlimm alles ist und hoffen, dass der Gesundheitsminister, die Politik, der Staat, die Kommune oder wer auch immer die Probleme für uns löst.
Aber hilft das?
Wenden wir einmal den Blickwinkel. Von außen betrachtet arbeiten wir in der Altenpflege in paradiesischen Zuständen. Unsere Nachfrage ist ohne jeglichen Marktdruck bis über das Jahr 2050 hinaus garantiert und wachsend. Wir benötigen zur Sicherung der Nachfrage so gut wie kein Marketing und Vertrieb, und unsere eigentliche Dienstleitung ist nicht kontinuierlichen Veränderungen und Konkurrenzdruck unterworfen. Gleichzeit ist die Finanzierung durch Versicherungen und Staatszuschüsse aus Steuergeldern gesichert und wird kontinuierlich erweitert.
Wir sollten uns darauf besinnen, warum wir eigentlich in der Pflege tätig sind.
Uns reizt doch der Sinn unserer Arbeit, das Engagement für unterstützungsbedürftige Menschen, die Freude an der Steuerung komplexer Systeme, die Vielseitigkeit, die die Aufgaben und Menschen in unserer Branche bietet.
Vielleicht können wir unsere Frustration überwinden, in dem wir nicht auf andere warten, sondern in dem wir jeweils vor Ort das tun, was wir tun können. Das verändert nicht das System, fördert aber die tägliche Arbeit, das Miteinander und die Zufriedenheit.
Fragen wir uns in diesem Sinne folgendes:
- Haben wir an den Schulen in der Nachbarschaft aktiv um Praktikanten geworben?
- Sorgen wir dafür, dass ein Praktikum in unserer Einrichtung ein positives Erlebnis ist?
- Probieren wir bisher unbekannte Arten der Personalsuche aus?
- Schaffen wir eine authentische Willkommenskultur in unserer Einrichtung?
- Verbessern wir unsere Führungskompetenzen durch Fortbildungen in Managementtechniken?
- Nutzen wir alle Möglichkeiten, die ein professionelles Dienstplanmanagement bietet?
- Schulen wir uns rhetorisch, um für die steigenden Herausforderungen an Kommunikation gewappnet zu sein?
- Fördern wir aktiv das Miteinander in den Teams?
- Nutzen wir die Möglichkeiten, die die vorhandene IT- und Software-Ausstattung bieten?
- Testen wir neue Arten der Arbeitsorganisation?
- Stellen wir uns den Diskussionen, die Veränderungen mit sich bringen?
- Laden wir zum Experimentieren ein?
- Erlauben wir Fehler?
- Können wir ambitionierter sein?
Es gibt noch hundert ähnliche Fragen, die unser Handeln vor Ort verbessern können. Wichtig ist, dass wir selbstkritisch sind und die Dinge anpacken, auf die wir Einfluss haben.
Wir können und sollten uns engagieren, um die grundlegenden Missstände zu überwinden, aber wir werden das System weder kurz- noch mittelfristig umfassend reformieren. Was wir aber ändern können ist unsere Einstellung und unser tägliches Tun.
Warten wir nicht länger auf andere oder auf grundsätzliche Umgestaltungen, sondern packen wir die Dinge an, die wir selbst beeinflussen können. Zum Wohl und Nutzen unserer Klienten, unserer Kolleg:innen und auch zu unserem eigenen.
Repost mit freundlicher Genehmigung des Vincentz Verlags.